Dass ein Mensch die Welt zunächst durch seine Brille sieht, ist zunächst einmal naheliegend. Dass menschliche Gemeinschaften, je nach ihrer Gruppenzugehörigkeit, desgleichen verfahren, ist bekannt. Regionen, soziale Klassen, Kulturkreise, Ideologien, Kontinente, immer wieder wird deutlich, wie sehr das Subjekt, ob individuell oder kollektiv, menschliche Sichtweisen inspiriert. Seit den Grenzüberschreitungen, in physischer wie spiritueller Weise, ist auch bekannt, dass der Blick des wie immer gearteten Subjekts aus einer Identifikationswolke heraus zu gewaltigen Fehlschlüssen führt, wenn die möglichen Blickwinkel anderer Subjekte ignoriert, ausgeblendet oder bewusst gar nicht erst geduldet werden. Dann befindet man sich im Stadium des Subjektivismus. Es gilt nur noch der eigene Blick, die Welt, so wie sie existiert, bekommt die sehr persönliche Note der Betrachtenden und die Betrachtenden bekommen dafür, quasi garantiert, ein verzerrtes Weltbild. Daraus zu erwachen, ist zumeist schmerzhaft, und das wohl treffendste Zitat des XX. Jahrhunderts, um so ein Erwachen zu charakterisieren, waren die Worte des Russen Michail Gorbatschows: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!
Unter diesem Aspekt die jeweiligen internationalen Akteure zu betrachten, ist eine Reise wert. Wie, so lautet die Frage, berichten die einzelnen Menschen, Regionen und Länder über sich, wie erklären sie die Welt, und welche Schlussfolgerungen ziehen sie daraus? Und zu empfehlen wäre es, quasi als Randnotiz, dazu die wunderbaren Karten des Magazins Katapult hinzuzuziehen, auf denen die Welt nach bekannten, aber auch nach sehr neuen und intelligenten Indikatoren verglichen wird. Das fängst schon an bei den berühmten Atlanten, die die wahren geographischen Größenverhältnisse verzerren und geht weiter bis zu der Anzahl von Ärztinnen und Ärzten pro Einwohner oder das gesetzliche Verbot von Vergewaltigung in der Ehe. Die sich daraus ergebenden Skalierungen deuten den Zivilisationsgrad der Weltregionen oft wieder neu und führen zu wichtigen Erkenntnissen. Ja, manche mögen staunen, aber bei dieser Vorgehensweise wird deutlich, dass weder das Bruttosozialprodukt noch die Staatsausgaben irgend etwas über die Qualität der Zivilisation aussagen.
Und nichts ist beredter als letzteres, um die These zu stützen, dass wir uns hier, in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2020, im Angesicht dessen, was die öffentlich-rechtlichen Medien wie die Bundesregierung täglich an die Bevölkerung an Sichtweisen und Weltinterpretationen absenden, in einer Blase und Echokammer befinden, wie sie besser nicht das Phänomen des Subjektivismus illustrieren könnte. Kein Tag vergeht, an dem nicht die eigene Sicht der Dinge als welt- und allgemeingültig reklamiert würde. Jedes Beispiel deckt die eigene, im Hinblick auf die anderen Verhältnisse in der Welt abgeglichene Verblendung auf. Seien es die internationalen Konflikte, seine es innenpolitische Themen, seien es wirtschaftliche oder strukturelle Entwicklungen. Immer endet die Berichterstattung mit dem Verweis auf die eigene Exzellenz und dem Tadel anderer.
Die einen sind dann nicht demokratisch, die anderen barbarisch, und dritte einfach nur noch rückständig. Was dabei nicht passt, und den Subjektivismus zu einer für das komplexe eigene System zu einer existenziellen Gefahr macht, ist die daraus direkt hervorgehende Verblendung. Wer meint, er sei der König aller Klassen, aber plötzlich erkennt, dass das nicht so ist, ist immer einen Schritt zu spät, den bestraft das Leben. Und zum anderen passt dazu nicht die Peitsche, die die Oberpriester des Subjektivismus bei sich tragen und die immer droht dann Anwendung zu finden, wenn jemand sich erlaubt, den Größenwahn, der in vielerlei Hinsicht keine Substanz hat, kritisch zu hinterfragen. Die damit einhergehende Angst, die immer wieder geschürt wird, macht das Gemisch zu einem explosiven. Der deutsche Subjektivismus, der übrigens eine lange Tradition hat, ist diese Mischung aus Größenwahn und Angst.
Vielleicht ein gut gemeinter Rat zum Schluss: Folgen Sie nicht denen, die an Ihre Angst appellieren. Und wenden Sie sich ab von denen, die den Größenwahn befeuern!

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Ich mag ja nicht nur was Sie schreiben, sondern auch ganz besonders wie Sie schreiben und Dinge kurz und prägnant auf den Punkt bringen können.
Der letzte Satz ist so einer, den man sich auch an den Kühlschrank pinnen könnte und doch schaudere ich, weil so viele das Eine oder das Andere versuchen.
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