Die Zerstörung eines Feindbildes

Alexander Kluge. Russland Kontainer

Wie kann auf das fatale, desaströse Bild antworten, das gegenwärtig über Russland geboten wird, adäquat geantwortet werden? Sicherlich nicht, in dem auf die gegenwärtig erzeugten, von einem monokausalen Feindbild bestimmten Vorstellungen eingegangen wird. Alexander Kluge, Jurist, Literat, Regisseur, Filmtheoretiker und Philosoph, hat eine Antwort gegeben, die es in sich hat. In seinem Buch „Russland Kontainer“ hat er genau das gemacht, was klug und vernünftig ist. Wie der Begriff Kontainer bereits vermuten lässt, hat er vieles in den ihm zur Verfügung stehenden Raum gepackt, was die Komplexität und Weite Russlands dokumentiert. Und, das Wichtigste, die Dokumente, die er zur Verfügung stellt, sind aus sich selbst erklärend. Er lässt Russland sprechen. Mit dem „Russland Kontainer“ vermittelt Kluge eine Ansicht, bei der sich viele, die das Land nur aus der medial und politisch motivierten Reduktion kennen, die Augen reiben werden.

In den fünf Magazinen, die der Kontainer beinhaltet, sind zentrale Begriffe enthalten, die dabei behilflich sind, Russland jenseits der Propagandamaschine zu begreifen. Dabei handelt es sich zunächst um die russische Seele, ein Terminus, der vielen vielleicht noch geläufig ist, der seinerseits jedoch zumeist auf einen melancholisch-schwermütigen Zustand reduziert wird. In zahlreiche Dokumenten wird diese Vereinfachung aufgesprengt und mit Themen wie Treue, Liebe und Loyalität erweitert. 

In der zweiten Sequenz, dem „Vaterland der Besonderheiten“ wird deutlich, wie avantgardistisch das frühe Stadium der Sowjetunion geprägt war. Von den technischen Extravaganzen, den Überlegungen der geographischen Umgestaltung bis hin zu den Phantasien zu der Version eines modernen Einwanderungslandes. Was folgte, war die Liquidierung der Ideenträger wie der Ideen selbst, obwohl sie, trotz allem, alles andere als verloren gegangen sind.

Und nicht fehlen dürfen die geographischen Besonderheiten. Sie, sie dem Betrachter aus dem europäischen Zentralland nur abstrakt bekannt sind, ergeben eine Vorstellung davon, was Weite, Unbewohnbarkeit und gleichzeitig Reichtum bedeuten. Die Landkarte entpuppt sich als ein Schlüssel, der die Tür von der naiven Vorstellung einer leicht zu handhabenden Erschließung zuschließt. Dass dabei die imperialen Vorstellungen der Heartland-Theorie von dem Briten Mackinder bis zum polnisch-amerikanischen Brzezínski nicht fehlen, zeigt die Zangen, die den Handlungsspielraum Russlands immer einrahmten. Und es werden die Versuche von Napoleon und Hitler noch einmal aus russischer Sicht beschrieben – das Überleben als Nation trotz ungeheurer Verluste.

Ein weiteres Kapitel setzt sich mit den Chancen und der Zerstörung auseinander, die durch die Perestroika ausgelöst wurden und mit dem Zustand der Anarchie, der folgte und den Raubzug auf das gesellschaftliche Eigentum auslöste. Auch das ein Feldzug, aus dem Innern, der analog zu denen von außen ungeheure Verwüstungen hinterließ. 

Der Kontainer schließt mit den Fragmenten, die aus den produktiven, avantgardistischen wie den zeitgenössischen Vorstellungen weiter existieren, und die in die Zukunft weisen können, wenn nicht der Zangengriff von außen weiter anhielte, der das bewirkt, was letztendlich auch zum Zusammenbruch des großen Experiments geführt hat: der Mobilisierung aller Kräfte für die Verteidigung, die alle anderen gesellschaftlichen Aktivitäten paralysiert.

Kluges „Russland Kontainer“ erweitert das Wissen über das Phänomen Russland, er besticht durch die dokumentarische Aussagekraft und er zerstört das existierende, banale und dämonische Feindbild in Gänze, ohne das Hilfsmittel einer politischen Apologie zu benötigen. Die Lektüre ist keine leichte Kost, aber mit leichter Kost ist die Welt auch nicht zu erklären. Wer das Buch liest, wird reichlich belohnt. Es zerstört das bornierte Feindbild bis auf die Grundmauern. 

  • Gebundene Ausgabe : 444 Seiten
  • ISBN-10 : 3518428926
  • ISBN-13 : 978-3518428924
  • Größe und/oder Gewicht : 15.4 x 3 x 23.4 cm
  • Herausgeber : Suhrkamp Verlag; 2. Auflage (18. Mai 2020)
  • Sprache: : Deutsch

2 Gedanken zu „Die Zerstörung eines Feindbildes

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  2. Avatar von BludgeonBludgeon

    Ein Buch mehr oder weniger. In Westdeutschland laufen ganz viele Leute herum, die behaupten Dostojewski und Tolstoi gelesen zu haben – vermutlich haben sie sich aber nur „an der Spraaaache“ delektiert (der deutschen Übersetzung obendrein), denn ihr Russlandbild haben sie von Burda und Springer. Daran wird sich bei jetziger Bildungslage auf lange Sicht nichts ändern.
    Die Apostel der Vorurteilslosigkeit pflegen ihre Vorurteile hinter Panzerglas.

    Die Ossis haben die Russen gehasst, solange die Freundschaft verordnet war und gar keine Kontakte gewährt wurden. Kaum waren die „Freunde“ abgezogen, per Verabschiedung 2.Klasse, fühlten wir uns doch mit ihnen verbunden im deindustrialierten armen Osten dem nun ungeschickt genug das Märchen erzählt wurde, dass der Sieg über Rommels Afrika-Corps die Wende des II: Weltkrieges gewesen sein soll.

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