Conditio humana und Technokratie

Wie könnte einmal  die kommentierende Überschrift über das historische Kapitel lauten, in dem wir uns heute befinden? Das hängt immer vom Auge der Betrachtenden ab. Je nach dem, wohin sich die Geschichte bewegt, könnte auch die Haltung sehr unterschiedlich ausfallen. Mehrere Optionen werden also möglich sein. Des Unterhaltungswertes halber seien einige wenige Varianten genannt:

  • Das Ende der Demokratie
  • Der große Aufbruch
  • Das große Lamento
  • Die große Angst
  • Das zynische Zeitalter.

  

Je nach heutiger Perspektive, klingen die Überschriften wahrscheinlich. Eine jedoch fehlt, da sie eine qualitative Voraussetzung beinhaltet, die momentan nicht gegeben erscheint, die aber sicherlich einen großen Sprung nach vorne beinhalten könnte. 

Doch bevor ich mich dieser Variante widme, möchte ich auf meinen Favoriten der bereits genannten beziehen. Das große Lamento ist das, was aus meiner Sicht überall zu sehen ist. Die Klage über alles, was nicht mehr funktioniert oder gilt, ist sehr laut. Nicht, dass sie nicht berechtigt wäre! Wen sollte es erfreuen, dass demokratische Institutionen ihre Reputation verlieren, dass Rechte wie die Pressefreiheit zur Serienproduktion von Feindbildern führen und dass im Allgemeinen das Vertrauen sich in einem beängstigen Abwärtstrend befindet. Das ist schlimm. Und der Zustand entspräche der Lautstärke, mit der das alles beklagt wird, wenn es nicht Möglichkeiten gäbe, den Weg, der vieles davon verursacht hat, auch wieder zu verlassen und einer neuen Route zu folgen.

Nicht, dass die Erkenntnisse neu wären, aber sie sind durch eine Euphorie, die leerer nicht sein könnte, verschüttet. Es geht um die Aushöhlung der menschlichen Existenzgrundlage, der Conditio humana. In welche Verhältnisse wurde der Mensch, der ein soziales, kommunizierendes und kooperierendes Wesen ist, katapultiert? Um die ganze Dimension zu ermessen, sei ein Beispiel genannt: Die allgemein politisch getriggerte Vorstellung, durch den Einsatz von Robotern in Krankenpflege und Altenbetreuung. Wer einer Existenz, die in der Krise auf die essenziellen Bedürfnisse der sozialen Interaktion angewiesen ist, mit einer weiter getriebenen maschinellen Taylorisierung antwortet, ist anscheinend nicht nur eine Gefahr für die Gesellschaft, sondern auch Opfer der eigenen koksgetriebenen Hybris. 

Wie das allgemeine, nicht mehr zu überbietende Gelage in den Bullshit-Terminologien und Fieberfantasien der Digitalisierung zeigt, wie sehr das durch den technokratischen Wahn kontaminierte Vorstellungsvermögen die Möglichkeiten der Lebenssteuerung durch Menschen negiert. 

Wer sich das Ergebnis ein wenig aus der Nähe ansehen will, sehe sich das an, was sich als Protagonisten einer neuen, die Ökologie fokussierenden Jugendbewegung präsentiert. Da ist eine große Empathie zu den Abstrakta Natur, Planet, Kosmos zu verspüren, in der direkten sozialen Interaktion verwandelt sich diese Fähigkeit in ein Kalkül, das so kalt wie der Schwanz einer Natter daherkommt. Sicherlich auch ein Resultat des Phänomens, dass die direkte, unmittelbare Erfahrung im Sozialisationsprozess immer mehr abnimmt und die bloße, mittelbare, theoretische Vermittlung sich epidemisch ausgebreitet hat.

Meine favorisierte Überschrift, aus der heutigen Erfahrung und dem Wunsch gespeist, dass vieles gut verlaufen wird in der weiteren Entwicklung der Menschheit, sie würde lauten: 

Das Ende des technokratischen Denkens. 

Und es hieße, dass es dringend erforderlich ist, die politischen Mandate, egal in welchen politischen Lagern sie zu verorten sind, all jenen zu entreißen, die im Wahn von Technologien und abstrakten Prozessen ihr Heil suchen, weil sie zu direkten sozialen Beziehungen selbst nicht fähig sind. 

Wer soziale Beziehungen pflegen kann, wer vernetzt ist in der Gesellschaft, mit ihren Unterschieden, mit ihren Widersprüchen, mit ihren Gebrechen und mit ihrer Schönheit, dem kann zugetraut werden, auch den Gestaltungsprozess , der sich Politik nennt, empathisch zu verantworten.

W.i.W.W., Wie immer, Widerspruch Willkommen!

3 Gedanken zu „Conditio humana und Technokratie

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  2. Avatar von aquasdemarcoaquasdemarco

    Gestern besuchte ich bei strömenden Regen einer dieser schwanzkalten Natterdemos, dort lachten sich die Menschen an, trotz Kälte und sprachen miteinander, analog.

  3. Avatar von alphachamberalphachamber

    Herr Mersmann,
    es ist Ihnen wieder gelungen, vielschichtige Themen in ein kurzes Essay zu fassen 🙂

    „…dass Rechte wie die Pressefreiheit zur Serienproduktion von Feindbildern führen…“

    Da sollten Sie sich mal näher mit der Presse in der Zeit des Vormärz befassen. Wenn so drastisch und rücksichtslos in eine Lebensweise eingegriffen wird wie hier, muss man sich über Polarisation und Anfeindungen nicht wundern.

    „…wenn es nicht Möglichkeiten gäbe, den Weg, der vieles davon verursacht hat, auch wieder zu verlassen und einer neuen Route zu folgen…“

    Wäre wohl nur möglich durch Entwicklungsstops oder einen „Maschinensturm“ Vs 2.0
    (Das Problem läge nicht nur in der Auswahl der Anwendungsbereiche, sondern auch in der Abstinenz politischer Macht über Technologien, die für die Regierung nützlich wären).

    „…Bedürfnisse der sozialen Interaktion angewiesen ist, mit einer weiter getriebenen maschinellen Taylorisierung antwortet,…“

    Die „IT-Welt“ ist der neue Lebensraum frustrierter (junger) Menschen. Verlernt man moralisches Entscheiden und Ausbildung von Tugenden, Umgang mit persönlicher Unsicherheit und Herausforderung, bietet AI und verwandte Technologien ein Platz, der nur eine logische Hirnfunktion und lockere Finger braucht, nicht „den Menschen“.

    „…weil sie zu direkten sozialen Beziehungen selbst nicht fähig sind…“

    Der Mensch denkt durch die Sprache, langer Aufenthalt mit „emojis“ in den sozialen Netzwerken fuhrt zu Ausdrucks-und Gefühlsverlust.

    „…Da ist eine große Empathie zu den Abstrakta Natur, Planet, Kosmos zu verspüren, in der direkten sozialen Interaktion verwandelt sich diese Fähigkeit in ein Kalkül…“

    Wir stimmen zu, die ganze Umwelt-Hysterie der Greta-Bande kommt nicht aus einem „Verstehen“ der Natur, eher aus dem Bedürfnis zum „group-hug“.

    „Das Ende des technokratischen Denkens.“ 

    Hmm, wohl leider erst der Beginn.
    NG

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