Die erzählerische Koexistenz von Weltgeschichte und individueller Allagsmühe

Alfred Döblin. November 1918

Kein Wunder, dass im November 2018 Alfred Döblins Roman über die deutsche Revolution vor einhundert Jahren Erwähnung findet. Bei der Trilogie, die sich bei näherer Betrachtung als vierbändiges Werk entpuppt, handelt es sich tatsächlich um ein Stück fundamental wichtiger Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Ende des II. Weltkrieges, mit dem Ende der Monarchie und mit dem frühzeitig programmierten Ende der Demokratie. Die Titel der vier Bände: Bürger und Soldaten 1918, Verratenes Volk, Die Heimkehr der Fronttruppen, Karl und Rosa. 

Was jeden, der den Wert dieses gigantischen Werkes schätzt, befremden muss, ist die spärliche verlegerische Aufmerksamkeit, die es genießt. Angesichts des von dem Nervenarzt Döblin entwickelten Multiperspektivismus, der bei keinem anderen zeitgenössischen Werk in dieser Dimension anzutreffen ist, handelt es sich dabei um die Zurückweisung eines Impulses, der immer noch in der Lage ist, vieles Historisches aufzuhellen und auch die Kräfte zu dechiffrieren, die sich momentan anschicken, die demokratische Konstitution zu destabilisieren.

Im ersten Band, Bürger und Soldaten, schildert Döblin das Kriegsende und die Botschaft von revolutionären Regungen der Kieler Matrosen im noch besetzten Straßburg. Dabei etabliert er einzelne Figuren, die sich durch die Handlung der folgenden, aufregenden und weltbewegenden Tage fortbewegen. Die Figuren stammen aus unterschiedlichen sozialen Milieus, dokumentieren ihre individuellen Nöte und entwickeln ihre eigenen Visionen. Das ist in Straßburg so und setzt sich in Berlin fort. Neben den Milieustudien, die durch Döblins professionellen Blick immer auch mit psychosozialen Traumata und pathologischen Projektionen einhergehen, werden auch die politischen Akteure wie das politische Kräfteverhältnis Gegenstand der Erzählung.

Da ist das dumpfe Gefühl der ehemaligen Soldaten, dass das alles so nicht weitergehen kann, da sind die Ängste der leitenden Sozialdemokraten um Friedrich Ebert um den Verlust jeglicher Ordnung, da sind die Revolutionäre um Liebknecht und Luxemburg, die die Räterepublik wollen, aber ebenso Angst vor dem Chaos haben. Und da ist eine in Kassel residierende Generalität, die von Monarchie und Obrigkeitsstaat retten will, was zu retten ist. 

Das ganze Konvolut der Ereignisse spielt im November und Dezember, neben den ganz profanen Geschäftsmodellen, die sich zu jener Zeit in Berlin jenseits der Ordnung etablieren, tauchen dann auch immer wieder historische Figuren auf, von denen heute zumindest die Schulgeschichte nicht mehr viel zu wissen vorgibt, die jedoch zu Klärung historischer Besonderheiten beitragen könnten. Da sind die Münchner Räte-Republikaner um Kurt Eisner und Gustav Landauer und da ist der im Auftrag der russischen Revolution in Berlin auftauchende Berater der Spartakisten Karl Radek

Was Alfred Döblin in diesem literarischen Meisterwerk gelingt, ist die erzählerische Koexistenz von Weltgeschichte und individueller Alltagsmühe. Kein Wunder, dass das Scheitern der Novemberrevolution angesichts der waltenden Kräfte folgerichtig erscheint, kein Wunder, dass das Psychogramm der Einzelnen wie des Kollektivs mit der Situation überfordert gewesen zu sein schien. Und auch kein Wunder, dass es in derartigen Situationen die einfach gestrickten, aber skrupellosen Charaktere am weitesten bringen. Döblin schildert die deutsche Tragödie in ihrer Komplexität und er skizziert gleichzeitig die Details, die zum Verständnis des Großen Ganzen erforderlich sind. 

Das modernistische Chaos, das sich immer wieder aus den Atavismen der Vergangenheit inszeniert und literarisch brillant in Berlin Alexanderplatz zum Ausdruck kommt, hat seine Wurzeln in November 1918. Wer sich diesem Blick verweigert, dem ist nicht mehr zu helfen.

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