Bei einer soziologisch-historischen Studie der amerikanischen Präsidenten, die vor einigen Jahren bereits erschien, kamen die Autoren zu dem Schluss, dass es einen signifikanten Unterschied zwischen den verschiedenen Präsidenten gegeben hat. Entweder, sie stammten vom Land, d.h. aus der Provinz, oder sie waren in den Metropolen sozialisiert. Diejenigen aus der Provinz waren ausgerechnet jene, die mit einer Vision in ihr Amt gingen, und die, die in den Metropolen bereits sozialisiert waren, galten als die Pragmatiker. Logisch ist der Ansatz. Denn wer im Kornfeld steht und bis zum Horizont schaut, dem ist es vergönnt, sich Gedanken über das Große und Ganze zu machen, und wer in den Gängen der Lobby groß wird, der ist mit den täglichen kleinen Deals beschäftigt.
Nun wäre es erforderlich, die ganzen Kolonnen der Politiker, mit denen wir es zu tun haben, zu durchleuchten und die Studien auszuweiten und durchzuführen. Die These für Deutschland unerforscht 1:1 zu übernehmen ist gewagt, und vielleicht trifft sie hier überhaupt nicht zu. Sicher ist nur, zumindest aus meiner Sicht, dass Politik generell zunehmend drunter leidet, ohne Vision, ohne Programm und ohne Strategie kommuniziert und vollzogen zu werden. Es ist eine heikle, ja nahezu irre Frage, ob Politik ohne eine Vision am Horizont auskommen kann. Deutlich ist, dass eine solche Vision fast vollständig fehlt. Es ist nicht unbedingt der Nachweis, dass Politik ohne großen Kurs überleben kann, sondern legt die These nahe, dass die große Krise, in der sich Politik befindet, in der Tatsache der Perspektivlosigkeit begründet ist.
Gerade darin scheint das Dilemma zu liegen. Politik wird nicht mehr begründet mit einem größeren Ziel, sondern mit einem irgendwie vorhandenen Ansatz und einem Anflug von Alltagsräson. Es klingt absurd, aber genau das ist in einem Land wie Deutschland, in dem es immer um das große System und das Prinzip geht, zu wenig. Wenn der von dem Historiker Heinrich August Winkler so beschworene lange Weg nach Westen darin bestanden hat, sich abzugewöhnen, die große Perspektive zu entwickeln und dem zwanghaften Versuch, den durchaus probaten, aber kulturell eben anders sozialisierten angelsächsischen Pragmatismus zu kopieren, dann ist dieses Unterfangen in einen unbefriedigenden Zustand gemündet.
Das letzte Relikt eines großen Plans ist das ständige Pochen auf den bei uns zumindest noch aufgeschrieben vorhandenen Wertekodex. Vertreter der angelsächsischen Blaupause dafür würden sich hüten, bei der Wahrung ihrer Interessen darauf zu verweisen, weil sowohl das einstige britische wie das heute amerikanische Imperium wussten, dass es Dinge gibt, die man tun muss, um die Macht zu erhalten, die sich aber nicht eignen, um in den Annalen der Systementwicklung zu erscheinen.
Stattdessen summt die deutsche Politik nahezu gemeinsam, aber zumindest im Kanon die Weise von den Werten, und macht dabei alles, was diesen nicht entspricht. Sie sieht dabei nicht, dass die eigene Glaubwürdigkeit hier darunter leidet und die Werte dort, wo sich nicht gelten, jeglichen Ruf verlieren. Die Konsequenz ist eine täglich gelebte Doppelmoral, die zu der Krise führt, in der wir uns befinden.
Es ist an der Zeit, sich wieder mit großen Visionen zu beschäftigen, um einen Maßstab zu fertigen, an dem sich Politik messen lassen kann. Das muss nicht in Dogmatismus enden, aber es würde dazu erziehen, den Kopf zu heben und bis zum Horizont zu blicken.

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Moin.
Von mir aus sofort.
Aber …
Nein, jetzt kommt nicht die schmidtsche Aussage: „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen.“ Die hat er quasi später widerrufen und als „pampige Antwort“ auf eine dusselige Journalisten-Frage dargestellt.
Ist es nicht vielmehr so, das für uns Menschen, vllt. besonders für uns Deutsche, das Bekannte im Zentrum steht und weniger das Unbekannte?
Schon Markt Twain wusste: „Menschen mit einer neuen Idee gelten so lange als Spinner, bis sich die Sache durchgesetzt hat.“
Ich interpretiere das so, dass „das Volk“ als Souverän in homöopathischen Dosen mit den Visionen vertraut gemacht werden muss, um neue Ideen durchzusetzen. Sonst kann es zur Überforderung kommen und das wäre nicht gut, weil irgendwann die nächste Wahl vor der Tür steht und es dann heißt: „Nein, die Spinner wähle ich nicht!“
Das Primat der Wirtschaft vor der Politik hat zu einer gewissen Negativ-Auslese des politischen Personals geführt, was in der Wirtschaft durchaus wohlwollend registriert wurde, machte es doch das „Regieren“ der Wirtschaft mit und an der Politik vorbei, nicht eben schwerer sondern leichter. Die Menschen spüren, daß nicht ihre Interessen verfolgt werden und brauchen Ablenkung und Schuldige. Bewährte Ablenkung sind die grassierenden Nationalismen und Populismen. Schuldige sind stets „die Anderen“, egal ob supranationale politische und wirtschaftliche Bündnisse wie EU, UN oder Minderheiten im eigenen Land, die als Sündenböcke dienen. Leider scheinen wir unfähig aus der eigenen Geschichte zu lernen, sonst wären die Erfolge der Hohlköpfe der AfD und Konsorten / Kohorten undenkbar und unerklärbar. Dann bedarf es noch eines Satans, eines äußeren Feindes, bei dessen Namensnennung das Denken aussetzt und nur noch religionsartige Glaubensreflexe, die niemals hinterfragt werden, einsetzen.
Um das Bild einer Schafherde zu bemühen:
Wir sind die Schafe, die von der Wirtschaft mittels des Schäfers Trump unserem Daseinszweck zugeführt, von politischen Schäferhunden zusammengehalten werden, während wir Schwarze Schafe unter uns anblöken und ausgrenzen und uns vor den drohenden, unsichtbaren Gefahren jenseits unseres mobilen Weidezaunes – wie erwünscht – zu Tode fürchten.
Gut geschrieben, Herr Mersmann
„…Es ist an der Zeit, sich wieder mit großen Visionen zu beschäftigen, um einen Maßstab zu fertigen, an dem sich Politik messen lassen kann.“
Die totale Anpassung an andere – meist amerikanische – Interessen und politische Korrektheit, lassen kaum neue Ideen zu. Wir sehen nicht e i n e n ueberragenden Denker am Horizont – es scheint sie nicht mehr zu geben…
Im Uebrigen teilen wir auch „almabu“s Ansicht.
HG aus der „Sauna“
Richtig, es wird in Deutschland nicht mehr agiert und regiert, sondern nur noch reagiert.