Robert Harris. Archangel
Archangel „Deutsch: Aurora“, der Roman von Robert Harris, mutet von der Geschichte her zunächst absurd an. Die Handlung spielt in der Frühphase der post-sowjetischen Ära, als das kommunistische System implodiert war und unter Präsident Jelzin noch Weltbank und IMF ein Wörtchen mitredeten. Die Anarchie war in vollem Gange, das, was als Privatisierung vielen erst einmal gut in den Ohren klang, war die Enteignung des Staates und die Aufteilung des Volksvermögens unter den modernen Bestien der Güteraufteilung. Es erwuchs das Geschlecht der Oligarchen, die teilweise mit Mafia-Methoden sich große Teile von dem Kuchen abschnitten, der herrenlos auf dem Tisch stand. Wer darunter besonders litt, war die einfache Bevölkerung. Es mangelte an allem und zunehmend machte sich die Meinung breit, dass das alte System zwar grausam, aber immer noch besser war als die gepriesene neue Freiheit.
Unter diesem Aspekt macht die Handlung von Harris Roman sogar Sinn. Und auch, dass am Rande eines internationalen Historikerkongresses in Moskau ein amerikanischer Wissenschaftler von jemandem kontaktiert wird, der als junger Mann zu Stalins Leibgarde zählte und die Stunden nach dem Tod des Diktators miterlebt hatte. Fast alle, die damals dabei waren, unter ihnen der berüchtigte Geheimdienstchef Beria, waren kurz darauf zum Tode verurteilt worden, um den Nachfolgern Stalins Dokumente zu ersparen, die große Unruhe hätten bringen können. In der erzählten Geschichte geht es dabei vor allem um ein persönliches Notizbuch des Diktators, das es noch geben solle. Der Mann, der den US-Wissenschaftler kontaktiert, behauptet, er wisse, wo es ist.
Und dann beginnt eine wilde Hetzjagd, in die alle verwickelt sind. Der US-Wissenschaftler, die aktuelle Staatssicherheit und die auf ihre Rückkehr wartenden Kommunisten. Das Buch wird gefunden und die Spur führt in ein sibirisches Städtchen namens Archangel, in dessen Hinterland, völlig verwildert, ein unehelicher Sohn Stalins leben soll. Und tatsächlich wird er aufgetrieben, ein Eremit, der sein gesamtes humanes Umfeld bereits getötet hat und sich bewegt wie Stalin, spricht wie Stalin und immer wieder große Passagen aus den Werken des Vaters rezitiert.
Die wilde Jagd endet mit dem Kuriosum, dass diese Figur irgendwann im Zug nach Moskau sitzt, alle Fernsehkanäle davon berichten und sich auf den Bahnhöfen Szenen abspielen, die manchen wie ein Traum, vielen aber wie ein Albtraum erscheinen. Massenhaft erscheinen die Menschen mit Blumen und Musikkapellen auf den Bahnsteigen, um die Rückkehr des großen Führers und Retters zu feiern. Wie die Geschichte im Detail verläuft und wie sie ausgeht, soll der verehrten Leserschaft überlassen bleiben. Robert Harris ist ein Erzähler, der sein Handwerk beherrscht.
Was außer der Geschichte wie dem Plot jedoch zu denken geben sollte, ist das massenpsycholoische Phänomen und seine mögliche destabilisierende Wirkung auf die Nachfolgegesellschaft. Auf der Folie des damaligen Russland ist die Spekulation gar nicht so abwegig, auf manch anderer jedoch ebenso wenig. Auch Hitlers Überleben wurde immer wieder kolportiert, auch die Rückkehr von abgesetzten Königen und selbst hingerichteten Diktatoren. Und es sollte nicht darauf reduziert werden, wie das mentale Kostüm der ewig Gestrigen aussieht, sondern mit dem abgeglichen werden, wie sehr der Neuanfang danach gelungen oder misslungen ist. Russland ist dafür ein sehr gelungenes Beispiel. Wenn die einstige Größe verblasst und das eigene, neue Schicksal sich als noch armseliger herausstellt als das gestrige, dann kann der Wunsch nach der Restauration übermächtig werden.

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