Wie sähe es aus, gestünde man jeder Nation nur ein Buch zu, dessen Urheberschaft und Thematik genau das Naturell träfe, das den Charakter ausmacht? Mit der Odysee von Homer täte man Griechenland keine Gewalt an, ganz im Gegenteil, ein solches Epos hat, wie wir wissen, über viele Epochen Bestand. Schließlich ist das Leben ein allgemeines, von Imponderabilien durchkreuztes Abenteuer geblieben. Mit Shakespeares Hamlet und den traumatischen Folgen eines Königsmordes hat England ebenfalls einen großartigen Tribut an die Weltliteratur entrichtet genauso wie Deutschland mit Goethes Faust, in dem der Drang nach Wissen und Tabubruch an einen Deal mit dem Teufel erinnert. Und der Frage, wie logisch und folgerichtig ein Verbrechen sein kann und wie groß sich die Reue ausgestaltet, hat die russische Literatur mit Dostojewski bravourös beantwortet.
Die französische Literatur stellt da größere Rätsel auf, vielleicht, weil sie mit einer solchen Wucht in die Moderne drang und Balzacs Verlorene Illusionen, Hugos Elende oder Zolas Germinal quasi für die ganze Menschheit nach den Verdammten von Gestern und Herrschern von Morgen fragten. Irland hatte es wiederum leicht, ein Genius wie James Joyce machte mit Ulysses aus einem Kopf eine moderne Metropole und aus der Metropole wieder das Nervensystem eines Kopfes. Und die USA wiederum taten es, wie in vielem anderen, Frankreich gleich, und es stellt sich die Frage, sind es Steinbecks Früchte des Zorns, die Wirtschaftsflucht und Ausbeutung thematisieren, Ist es Thomas Wolfs You can ´t go home again, das die modernen, metropolitanen Nomaden beschreibt oder ist es John Dos Passos Manhattan Transfer, in welchem die Sinn- und Kulturbrüche des Molochs New York erzählt sind?
Wenn es ein Buch gibt, dass sowohl vom eigenen Land als auch von der übrigen Welt als das Buch dieses Landes bezeichnet wird, dann ist es das Epos des Don Quijote von Cervantes. Der erste Teil dieses erzählerischen Kolosses erschien 1605, der zweite 1615. Trotz der Jahrhunderte, die zwischen der Veröffentlichung und heute liegen, ist die Welt mit diesem Werk noch nicht fertig. Der Roman ist multi-dimensional, er ist eine Persiflage auf die damalige Ritter-Literatur, er ist eine Satire auf die Insignien der Macht, er ist eine Beschwerde gegen den Dünkel, er ist eine Warnung, die dünne Grenze zwischen Schein und Sein aus den Augen zu verlieren. Er ist aber auch eine Hommage an den praktischen Hausverstand des einfachen Volkes und die Heilkräfte wirtschaftlichen Denkens.
Mit dem Protagonisten Don Quijote schuf Cervantes jenen sich selbst überschätzenden Charakter, der es bis in unsere Tages als Phänomen geschafft hat und vermeintlich immer am großen Rad dreht. Und mit seinem Knappen Sancho Panza inthronisierte Cervantes die praktische Logik des arbeitenden Volkes, die sich immer blenden läßt von der Hierarchie, aber diese wieder zurecht stutzt, wenn sie mit dem Gift praktischer Fragen beschwert wird.
Wie alle Nationen, so ist auch Spanien stolz auf sein Buch, seine Erzählung am großen Erkenntnisprozess der Menschheit. So ist es kein Wunder, dass die Plaza de España, mitten in Madrid, eine große Säule zur Ehrung der Literatur an sich beherbergt, und zu ihren Füßen, als ginge es um einen jener Stürme auf die Windmühlen, die beiden berittenen Figuren des Cervantes unterwegs sind, mitten unter uns, als wüßten alle, dass Lug und Trug, der schöne Schein, aber auch das einfach Wahre unter uns weilt.

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Immer lebendig. https://gerdakazakou.com/2017/08/16/der-ritter-von-der-traurigen-gestalt/
Für Amerika werfe ich W, Faulkners „Light in August“ in den RIng. Rassismus, Puritanismus, Bigotterie im mythisierten, fiktionalen Südstaaten-County „Yoknapatawpha“. Schuld und Unschuld. Schuld und Sühne. Eine bis dahin für amerikanische Verhältnisse moderne Erzählweise mit den Erzähltechniken des Bewusstseinsstroms, sich stets ändernder, an filmische Überblendtechniken erinnernde Erzählperspektiven etc.
D´accord!
Aktuell, wie eh‘ und je‘!