Jürgen Neffe. Marx. Der Unvollendete
Dass zu Karl Marx 200. Geburtstag zahlreiche Biographien und neue Werkausgaben erscheinen, ist kein Wunder. Noch vor zwanzig Jahren wäre die Situation eine andere gewesen. Da schien alles, was sich mit der Idee des Kommunismus befasste, aufgrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion als ein uninteressanter Anachronismus. Wäre da nicht die Weltfinanzkrise 2008 gewesen, die dazu führte, dass die Schriften und Analysen des Karl Marx eine Renaissance erfuhren. Seitdem attestieren immer mehr Historiker, Ökonomen und Politologen dem deutschen Pholosophen, Ökonomen, Schriftsteller und Politiker eine wachsende Aktualität. Trotzdem tut sich die Rezeption nach wie vor mit ihm schwer, vor allem, weil sein umfassendes Werk vielleicht zu komplex ist, um mit einfachen Aussagen zu einem Resümee zu kommen.
Eine rühmliche Ausnahme bei der Sichtung der aktuellen Literatur macht dabei die Marx-Biographie des promovierten Naturwissenschaftlers, Philosophen und Politologen Jürgen Neffe. Unter dem Titel „Marx. Der Unvollendete“ brachte Neffe, der bereits durch Biographien über Albert Einstein und Charles Darwin von sich reden gemacht hat, ein 600 Seiten umfassendes Werk auf den Markt, dass sich den komplexen Herausforderung in vollem Umfang stellt.
Ohne auf die tatsächlichen biographischen Marksteine zu verzichten, gelingt es Neffe, das komplexe Werk des Karl Marx zu sezieren und in seinen bahnbrechenden Einzelteilen zu besprechen. Da sind dessen Analysen der klassischen deutschen Philosophie und der Transfer der Geschichtsphilosophie Hegels in die Moderne, die Nutzbarmachung der dialektischen Denkweise für das Zeitalter des Industrialismus und die Entwicklung des promovierten Juristen zu einem Redakteur und Politiker, der sich den Fragen der Zeit stellt und mit Werken wie dem „Kommunistischen Manifest“ und dem „18. Brumaire des Louis Bonaparte“ nicht nur einen politischen Erdrutsch bewerkstelligte, sondern es auch in den Kanon des Weltkulturerbes geschafft hat.
Und da ist der Autor des „Kapitals“, an dem er Jahrzehnte arbeitete und in dem er Erscheinungen wie Wirkungsweise des Kapitalismus in seiner Komplexität erfasste und erklärte. Dabei spart Autor Neffe nichts aus, so kompliziert es auch erscheinen mag. Weder der Doppelcharakter der Ware noch der tendenzielle Fall der Profitrate, das Doppelspiel von Gebrauchs- und Tauschwert wie die Eigendynamik des permanenten Wachstums und seine inhärente Tendenz zu weltumspannenden Krisen werden ausgespart. Selbst das erst viel später entdeckte und nur zögerlich veröffentlichte „Maschinenfragment“ (MEW, Bd. 42), in dem Marx die Entfremdung entschlüsselt und die Tendenz beschreibt, dass die Produktionsweise aus den humanen Subjekten Anhängsel und Objekte einer verselbständigten Maschinendynamik macht, finden Eingang in die biographische Betrachtung.
Dass dennoch die menschliche Komponente dabei nicht untergeht, spricht für die umfassende Sichtweise des Autors. Marx Unfähigkeit, selbst mit Geld umzugehen, die unzähligen familiären Tragödien, das lebenslange Exil und letztendlich die kongeniale Beziehung zu Friedrich Engels haben Platz in diesem Werk.
Insofern eignet sich „Marx. Der Unvollendete“ durchaus als Lektüre, um einen umfassenden und qualifizierten Blick für das zu bekommen, was einen kritischen Leser erwartet, wenn er sich der Entschlüsselung der Primärtexte stellt. Von der „Kritik der Hegel´schen Rechtsphilosophie“ bis zum „Kapital“, vom „Kommunistischen Manifest“, über den „Bürgerkrieg in Frankreich“, einer Auseinandersetzung mit der Pariser Kommune von 1871, bis hin zum „Maschinenfragment“, sind diese Schriften bis heute herausfordernd und erhellend. Und sie enthüllen, wie wenig Marx, der mit zunehmendem Alter immer mehr realpolitisch dachte, mit den Phantasten einer übereilten Revolution gemein hatte und wie große seine Aktualität ist, wenn es darum geht, die bestehende Welt zu entschlüsseln.

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Danke, für den Lesetipp! Ich kenn‘ da jemand, der zieht sich solche Wälzer in ein paar Nächten rein und was noch krasser ist, er versteht, was er da liest!