Wer glaubt, nun sei alles angerichtet, wird noch böse erwachen. Das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen ist genau das, was als eine politische Perspektive nicht beschrieben werden kann. Es handelt sich um ein Rechenergebnis, in dem die Interessen der unterschiedlichsten Kräfte berücksichtigt wurden. Zäh wurde verhandelt, und für einige Partikularinteressen wurde auch etwas herausgeholt. Was allerdings nicht geschah, das war die Formulierung eines politischen Willens. Wohin soll dieses Gemeinwesen gehen? Welche gesellschaftlichen Triebkräfte stehen für was zur Verfügung? Welche Rolle will das Land im internationalen Konsortium einnehmen? Und wie soll das Zusammenleben in einigen Jahren aussehen?
Von Helmut Schmidt stammt das Wort, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Das war gegen die Kräfte gemünzt, die vor lauter Schwärmerei die reale Welt nicht mehr wahrnahmen. Und es war zu einer Zeit, als Fragen nach Richtung und Haltung noch einigermaßen sicher von einem Großteil der Gesellschaft beantwortet werden konnten. Nach Jahrzehnten des Austarierens in der Politik, in denen es immer nur um den Machterhalt ging, sind diese Gewissheiten verloren gegangen. Da existiert nur noch das Detail. Wer sich im Konkreten verliert, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wohin die Reise geht, der verfügt auch über Symptome, die ärztlicher Behandlung bedürfen. Und so dreht sich alles im Kreise. Da bleibt nur noch Heines viel und oft fälschlich zitierter Satz über Deutschland, das einem bei nächtlicher Betrachtung den Schlaf raubt.
Nun haben sich die Technokraten geeinigt. Und das ist der einzige Titel, den diejenigen, die dieses Regierungspapier mit verfasst haben, für sich beanspruchen. Mit Politik, also mit dem Schicksal der Gesellschaft, hat das in der Kategorie Gestaltung nichts zu tun. Und selbst auf dem Feld, auf dem sie sich abmühten, haben sie sich einen schlechten Leumund verschafft. Wer von der Digitalisierung im Nebel schwärmt, aber noch Beschäftigungsverhältnisse aus Kaisers Zeiten im öffentlichen Dienst beibehält, der kann nicht mehr bei Sinnen sein.
Das Personal, über das im Zusammenhang mit der neuen großen Koalition gesprochen wird, ist nicht einmal mehr eine lakonische Note wert. Jemand, der jetzt das Außenministerium anstrebt und in der Wahlnacht noch von der Notwendigkeit einer starken Opposition gesprochen hat und dafür auch noch den Parteivorsitz wegwerfen will, erinnert an die berühmte traurige Gestalt aus der spanischen Literatur. Und dass eine Bellizistin wie die ehemalige Verteidigungsministerin auch die neue bleiben soll, zeigt, dass niemand auch nur daran denkt, aus dem Fiasko Ukraine und Syrien zu lernen. Und was macht eigentlich der regierende Bürgermeister einer Stadt wie Hamburg, in der mehr Zukunft stattfindet als im ganzen Rest der Republik, in einer Bundesregierung, deren Halbwertzeit bei den Londoner Buchmachern kein Interesse erregt? Und, der scheidende bayrische Ministerpräsident, der während der Flüchtlingskrise 2015 sein Handy aus Angst, Verantwortung zu übernehmen, ins Aquarium geworfen hat, was macht diese Figur im Innenministerium? Und letztendlich diejenige, um deren Machterhalt der ganze Spuk veranstaltet wurde, was will sie noch erreichen, außer sich selbst einen notablen Abgang verschaffen?
Nein, Germanistan ist in keinem guten Zustand. Und der Diskurs, der notwendiger ist denn je, der wird auf die Straße verlagert, denn das ist das einzige, wofür diese Koalition mit Sicherheit sorgen wird.

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Gut, grundsätzlich stimme ich zu.
Allerdings war das Schmidt-Zitat nicht „gegen die Kräfte gemünzt, die vor lauter Schwärmerei die reale Welt nicht mehr wahrnahmen“, sondern nach eigener Aussage eine „pampige Antwort auf eine dusselige Frage“ – nämlich „wo seine große Vision“ sei. Nachzulesen im ZEITmagazin vom 04.03.2010.
Das Manager-Magazin hat Schmidt vor 3 (?) Jahren als „großen Visionär“ beschrieben, aber er sei „kein Träumer“ gewesen: „Visionen mussten für ihn greifbar sein, Ideen waren wertlos, wenn sie nicht umgesetzt wurden.“
Grüße aus Ostholstein
„Ideen waren wertlos, wenn sie nicht umgesetzt wurden.“
In einer Brainstormingphase ist jede Idee wertvoll und die Frage der Umsetzbarkeit absolut zweitrangig. Erst in der darauf folgenden Phase muss auch die Frage der Umsetzbarkeit eine Rolle spielen, sogar eine entscheidende. Ich habe Mühe mir vorzustellen, dass das jemandem wie Helmut Schmidt nicht völlig klar gewesen sein sollte.
Moin. Ja. So gesehen keine Widerworte. Ich habe auch nur aus dem MaMa zitiert.
Sicherlich ist eine jede Idee erst einmal wertvoll, selbst wenn sie auf den ersten Blick nicht umsetzbar scheint. Aus der Summe mehrerer Ideen ergibt ja dann oft das Machbare.
Grüße von der Ostsee
Ein gelunges Beispiel erfolgreicher Inklusion:
Martin Schulz (SPD) musste sich bereits in der Schule von einem Lehrer vorhalten lassen: «Mit Mathe wird das nichts, Schulz. Werd Politiker!» Das erzählte der 58-Jährige am Montag in München, als er den Wilhelm-Hoegner-Preis der Landtags-SPD entgegennahm. In der neunten Klasse war er demnach an die Tafel gerufen worden, um die binomischen Formeln zu erklären. «Ich habe dann angefangen zu erzählen: Mathe ist ein wichtiges Fach, die binomischen Formeln sind wichtige Formeln und wer sie kennt, ist klar im Vorteil.» Er selbst kannte sie nicht und versuchte, die Zeit bis zum Pausenklingeln irgendwie zu überbrücken. Der Lehrer empfahl ihm daraufhin, Politiker zu werden. Schulz brach später die Schule ab und machte eine Ausbildung zum Buchhändler.
Spaßige Frage von mir an die Leser von form 7: ist meine Idee für einen Bundesstaat Europa Träumerei oder Vision? Unbeschadet der Dauer der evtl. Verwirklichung.
Das kommt darauf an, wer da das Präsidialamt besetzt und ob außer wirtschaftlichen Erwägungen noch andere Gründe dafür sprechen.
Entschuldigung., ich hatte etwas vergessen. Ich hätte zum wiederholten Mal auf meine Petition Bundesstaat Europa hinweisen sollen. Bei Form 7 nachzulesen unter Bundesstaat Europa- doch nicht so abwegig? .
Prima Zsammenfassung. Beim Thema Schmidt und Visionen bin ich anderer Meinung: Schmidt erkannte nicht, dass seiner Partei der beste Teil zukünftiger Jusos abhandenkam, dank seiner Politik der Aufrüstung (bitte bitte Raketen – der Russe kommt) und der Umweltmissachtung: Ohne Schmidt wär’s wohl kaum zu einer grünen Partei gekommen. Der intellektuelle Aderlass wirkte in der Partei lange nach. Kevin Kühnert ist nun ein verblüffendes Achtungszeichen: Oops, wo kommt der den her?