Dafür, dass sich die Oktoberrevolution nach dem gregorianischen Kalender, nach unserer Zählweise im November stattfand, herrscht noch große Ruhe. Denn kein Ereignis hat die Welt so erschüttert wie der Arbeiter- und Matrosenaufstand in Petrograd. Und kein Ereignis hat die Welt so nachhaltig verändert wie jene aus heutiger Sicht überschaubaren Scharmützel, die mit der Erstürmung des Winterpalais als Symbol für die Zarenherrschaft amtlich wurde. Bis auf den Spiegel, der heute schreibt, besonders der russische Präsident Putin fürchte sich anlässlich der bevorstehenden Erinnerungswelle vor einer erneuten Revolution im eigenen Land, wird das Thema kaum angeschnitten. Zu der für den Spiegel repräsentativen Geschichtsvergessenheit passt kein Kommentar, außer dem, dass alle Mächtigen die Revolution fürchten.
Im Laufe des Jahre lieferten im TV allerdings dritte Programme Mehrteiler, die alle aus einer Feder zu sein schienen und die im Grunde aus dem wuchtigen historischen Ereignis eine Doku-Soap machten, bei der sich an intrigantem, machtgeilem und korruptem Wesen gegenseitig übertrumpfende Akteure die Macht missbrauchten. So kann man das machen, aber es erklärt leider nichts. Was hinsichtlich der übersichtlichen, historischen Versuche vorliegt, um die Oktoberrevolution einem größeren Publikum vorzustellen, eignet sich nicht für historische Erklärungen, Deutungsversuche und vielleicht auch Lehren. Diese Versuche dokumentieren lediglich, dass man sich in der westlichen Presse wie den Medien mit bedenklicher Geschwindigkeit den Methoden angenähert hat, die man gerade in Bezug auf die Propaganda zu kritisieren sucht.
Dass die Historiker sich auch bei diesem Ereignis nicht mit Ruhm bekleckern, war zu erwarten. Die Wissenschaften haben sich ebenfalls nicht zu ihrem Vorteil entwickelt und nicht umsonst wird zunehmend von Auftragswissenschaften gesprochen. Lediglich der Historiker Gerd Koenen legt mit einem monumentalen Werk (1150 Seiten) mit dem Titel Die Farbe Rot eine Studie vor, die sich an dem Phänomen abarbeitet, wie die emanzipatorische Idee von der sozialen Revolution die halbe Welt erfasst hat, wie sie sich materialisierte und wie aus dem faszinierenden Traum eine bittere Satire wurde, indem in nahezu allen Machtapparaten, die den Sozialismus sichern sollten, ausgerechnet die Kräfte obsiegten, die in ihrer Struktur das alte System verkörperten. Da lohnt sich die Lektüre, weil die Frage bis heute unbeantwortet ist.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, als dem Symbol für die Oktoberrevolution schlechthin, der nun 27 Jahre zurückliegt, etablierte sich eine Bezeichnung für das, was da über den Kommunismus obsiegt hatte. Es war nicht der freie Markt, es war nicht die soziale Marktwirtschaft, es war auch nicht der Kapitalismus. Eigenartigerweise und bezeichnenderweise etablierte sich ein Begriff, der den historischen Sieg beschrieb, und zwar der Begriff des Triumphalismus. Er dechiffriert genau das, was im Kampf gegen den Roten Oktober und in der Folge gegen alle Staaten, die die soziale Revolution zum Programm erhoben hatten, zur Debatte stand: deren Zerschlagung um jeden Preis.
Wie hoch dieser Preis letztendlich wird, konnte man in den letzten zehn Jahren seit der Weltfinanzkrise sehr gut beobachten. Die Aussichten, die das Neue produziert, von dem niemand so richtig sagen kann, was es ist, werden immer mehr zu einer Reproduktion der Gründe, die einst für die Oktoberrevolution sprachen. Das ist bitter, und gewollt hat es eigentlich auch keiner. Aber alles scheint sich im Kreise zu drehen. Insofern ist der rote Oktober so aktuell wie eh und je. Und es wird Zeit, sich mit ihm jenseits der propagandistischen Pamphlete zu befassen. Mit den guten Ideen wie mit den verheerenden Irrtümern.

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Man kann in letzter Zeit an vielen kleinen zunächst unscheinbaren Details das Gefühl bekommen, als ob Geschichte sich in großen Zügen wiederhole. Ich befürchte ernsthaft wir könnten uns in Europa an Konstellationen annähern, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg bestanden haben. Ein bißchen Nationalismus, ein bißchen hin und her und schon gehen wir uns wieder an die Kehle, als ob wir aus dem vergangenen, dem wohl blutigsten Jahrhundert der Weltgeschichte, absolut nicht gelernt hätten und blasen frohgemut zum WW1 2.0…
„Lediglich der Historiker Gerd Koenen legt……………“
Diese Feststellung halte ich als Nichthistoriker für sehr gewagt.
Wenn Sie dieses Thema ernsthaft interessiert und es Ihre Zeit zulässt, dann besuchen Sie doch folgende Veranstaltung.
http://www.kas.de/wf/de/17.74985/
Dr. Koenen ist auch anwesend. Moderiert wird diese Veranstaltung u.a. von Herrn Kellerhoff.
https://www.welt.de/geschichte/article169764989/Lenins-Opfer-uebersieht-man-leicht.html
Danke, der FAZ-Artikel bestätigt im Grunde meine Annahme, denn er nennt klar die Schwächen die diesem Werk offenbar zu Grunde liegen. Er nimmt vermutlich übertriebene Opferzahlen der damaligen Chronisten, setzt sie in Bezug zu einer unbekannten Weltbevölkerung jener Zeit und kommt so zu prozentual höheren Opferzahlen als in den Kriegen der Neuzeit. Ich will das Buch keinesfalls beurteilen, gar abwerten, sehe das aber schon als einen Schwachpunkt an. Trotzdem vielen Dank!
Habe vor kurzem Gerhard Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“ gelesen. Passt wie die Faust aufs heutige Auge und ist doch 130 Jahre alt.