Die Euphorie über die neue Art von Öffentlichkeit ist groß. Im Vergleich zu dem, was vor der Satellitenübertragung als Öffentlichkeit galt, sind tatsächlich neue Dimensionen erschlossen. Das, was als das Forum der Meinungsbildung vorher als gesetzt galt, hatte zumeist einen geographischen Bezug. Da ging es um öffentliche Plätze, Hallen, Stadien, Parlamente und formale wie informelle Institutionen. Die digitale Revolution hat zwei Dinge erreicht, die latent in der Zielsetzung idealer Kommunikation Geltung hatten. Weder Ort noch Raum haben aufgrund der virtuellen Dimension noch den Stellenwert, der vormals als Hinderungsgrund von schneller Kommunikation existierte. Und auch die soziale Barriere, die aus Mitgliedszwang via sozialer Formation Bestand hatte, steht dem freien Individuum nicht mehr im Weg zum Zugang zu allem, was Diskurs bedeutet und Meinung produziert.
Die neue Form der Öffentlichkeit steht dem freien Individuum nicht nur unbegrenzt zur Verfügung, sie hat auch durch das Phänomen der Gleichzeitigkeit das Tempo in schwindelerregende Höhen getrieben. Wenn etwas schnell geht, entsteht bei den Menschen eine Grundskepsis gegenüber dem Prozess. Was schneller als der Wind zustande kommt, bewegt sich auch vor den Fähigkeiten des kognitiven Apparates, mit dem Menschen ausgestattet sind. Bevor begriffen wird, was da eigentlich vor sich geht, liegen bereits Ergebnisse vor, die bei der Ausgangslage die wenigsten Beteiligten im Fokus hatten.
Insofern ist der schrille Schrei nach totaler Transparenz vielleicht gar nicht das pathologische Misstrauen gegenüber denen, die das Mandat haben, Entscheidungen zu treffen. Und das Feld, auf dem das markanteste Mandat überhaupt existiert, ist die Politik. Das Misstrauen gegenüber der Politik hat somit auch, und das ist das Absurde, seine Ursache in der steigenden Transparenz, die durch die digitale Technik hergestellt wird. Die Mandatsträger wiederum sind durch das vorhandene Misstrauen und die Forderung nach totaler Transparenz ebenso überfordert wie die namenlosen Diskursteilnehmer, die bei der vorherrschenden Geschwindigkeit die weiße Fahne hissen. Das, was als unbedingter Teil bei der politischen Beratung notwendig ist, funktioniert nicht mehr. Treffen, bei denen Gedankenspiele, Visionen und Szenarien eine Rolle spielen, um letztendlich zu einer vernünftigen Entscheidung zu kommen, sehen sich dem hysterischen Verdacht ausgesetzt, mit einer versteckten Agenda alles mögliche vorzuhaben. Und jedes einmal artikulierte Planspiel, das bei solchen Treffen formuliert wird, erscheint im World Wide Web der neuen Öffentlichkeit bereits als skandalträchtiger Endzweck der Veranstaltung.
Die Achillesferse der neuen Öffentlichkeit, die auch mit einer neuen Form der Demokratisierung gleichgesetzt wird, beinhaltet eine desaströse Verschlechterung hinsichtlich dessen, was als Forum der Beratung benannt werden kann. Die Labore der Ideenentwicklung sind durch das neue Empfinden in Zentren der Verschwörung umgewidmet. Die Reaktion der Betroffenen Protagonisten kann leider nur als nachteilig beschrieben werden. Sie begannen, fortan nur noch die sympathiefähigen Attitüden des Mainstreams zu artikulieren. Die Politik hat zu einem Großteil ihre Originalität eingebüßt, was dieser fälschlicherweise vorgeworfen wird. Die Malaise ist jedoch dem neuen Absolutismus der Transparenz zu verdanken, der seinerseits als ein Symptom pathologischen Misstrauens beschrieben werden muss.
Es ist erforderlich, die beschriebenen Wirkungsmechanismen bei der Analyse von Politik zu berücksichtigen. Und es ist erforderlich, sich mehr mit den kognitiven Fähigkeiten aller Interakteure und den sich daraus ergebenden Notwendigkeiten zu beschäftigen, als sich den nicht endenden Orgien hinzugeben, bei denen die technischen Möglichkeiten bis zum Exzess getrieben werden.

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Ist das als Plädoyer für Davos, Bilderberg, G7, G8, G20 zu verstehen?
Quatsch!
Dann bin ich beruhigt;-)
Die haben doch eine Agenda, die sie verbergen wollen!