Miles Davis Quintet. Live in Europe 1969. The Bootleg Series Vol. 2
Nach Erscheinen der Aufnahmen des Miles Davis Quintett von dessen Europa-Tournee 1967 im Jahre 2011 kommt nun unter dem Titel Miles Davis Quintet. Live in Europe 1969. The Bootleg Series Vol.2 gleich eine 4 CD-Box auf den Markt. Davon sind 3 CDs Mitschnitte der Auftritte beim Antibes-Festival (CD 1+2) sowie Stockholm (CD 3) und eine DVD von den Berliner Jazztagen. Der große Unterschied zu den Aufnahmen von 1967 sind zum einen die personellen Wechsel im Quintett, denn es sind nur noch Miles Davis und Wayne Shorter übrig geblieben, Herbie Hancock wurde durch Chick Corea, Ron Carter durch Dave Holland und Tony Williams durch Jack DeJohnette ersetzt. Diese Umbesetzungen sorgten zum anderen geradezu für eine Entfesselung der Band, was zu einer noch größeren Experimentierfreudigkeit und Dynamik geführt hat. Und Miles Davis scheint auf den vorliegenden Einspielungen wie ausgewechselt. Er präsentierte sich drogenfrei und vor Kraft strotzend, was eine enthemmende Wirkung auf sein Spiel und die von ihm an den Tag gelegte Toleranz hatte.
Dieses Miles Davis Quintet, das immer den Beinamen Lost Quintet trug, weil kaum Aufnahmen vorlagen, die seinen richtungsweisenden Einfluss dokumentierten, ist nun durch die vorliegende Edition aus dem Zustand des Verlorenseins zurück geholt worden. Es sind im positiven Sinne historische Dokumente, weil der Übergang von Miles Davis selbst von der Modalität in eine von Fusion, Funk, Rock und psychedelische Moderne in beeindruckender Qualität zugänglich gemacht wurden. Seine Interpretation von Round Midnight (CD 1, Antibes), bei der er das Thema der Ballade mit einer modalen Wucht anbläst, als ginge es um eine testamentarische Festschreibung, um dann in ein Beschleunigungslabyrinth zu entschwinden, bei dem jede Rückkehr ausgeschlossen zu sein scheint, ist die wohl eigenwilligste dieses Stückes, die in der Jazz-Geschichte vorliegt. No Blues (CD 2) wird durch Davis Phrasierungen und die psychedelischen Eskapaden Chick Coreas und die lyrischen Etüden Wayne Shorters zu einem Referenzstück für archaische Wahrheiten im experimentellen Chaos. Und in Bitches Brew (CD 3) zeigen Jack DeJohnette und Dave Holland, wie strukturbildend Beschleunigung werden kann, wenn sich Individuen wie Davis und Shorter, die zu diesem Zeitpunkt wohl keine Grenzen mehr wahrnehmen wollten, auf halsbrecherische Exkursionen begaben.
Auf der DVD von den Berliner Jazztagen (mono, exzellente Qualität) wird dann auch sichtbar, wie zweifelsfrei und cool dieses Quintett zu Werke ging. Ob bei den Phrasierungen bei Directions, den kongenialen Tempiwechseln bei Bitches Brew, den Spannung erzeugenden Staccati bei It´s About That Time, den lyrischen Pausen bei I Fall In Love So Easily oder den bewußt erzeugten Dissonanzen bei Sanctuary, hier bekommt man auch zu sehen, wie es in einem Labor, in dem an den Grundzügen musikalischer Zukunft gearbeitet wird, zugeht. Es wird gänzlich auf verbale Kommunikation, Gestik und Mimik verzichtet, ausschlaggebend ist die absolute Sicherheit am eigenen Instrument, die Gewissheit mit kongenialen Partnern unterwegs zu sein und ein überbordendes Selbstbewusstsein aller Akteure, ohne es ostentativ zur Schau stellen zu müssen.
Miles Davis Quintet. Live in Europe 1969. The Bootleg Series Vol.2 ist ein einzigartiges Dokument der Geschichte des modernen Jazz, eine Hommage an die konzeptionelle Offenheit, den Mut zum Experiment und eine so wohl nie wieder da gewesene Gemeinsamkeit von Ausnahmemusikern.
