Der Besuch des türkischen Präsidenten Abdullah Gül hat in Deutschland eine Reaktion ausgelöst, die befremdlicher nicht sein könnte. Der Tenor, der sich durch das Gros der Kommentare zieht, konzentriert sich auf Defizite der türkischen Demokratie, türkische Positionen zu Israel, die Einstellung der türkischen Regierung zu den in Deutschland lebenden Türken und das Selbstbewusstsein, mit dem der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan jüngst bei seinem Besuch in Kairo aufgetreten ist. Insgesamt besteht die Türkei in den Augen vieler nicht den Test, um sich für eine Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union zu qualifizieren.
Wie in vielen Fällen sind mangelndes Wissen im Allgemeinen, mangelndes historisches Wissen im Besonderen und politischer Illusionismus Ursache für die vorwiegend negative Berichterstattung. Sieht man sich die Fakten genauer an, dann rechtfertigen diese nicht die Begutachtungen, die in der Bundesrepublik von Politik und Medien ausgestellt werden.
Die seit 2003 gewählte AKP mit ihrem Ministerpräsidenten Erdogan an der Spitze hat die von Bülent Ecevits Republikanischer Volkspartei während dessen Regierung (1999-2002) eingeleiteten Reformen des Zivilrechts fortgesetzt und mit der Abschaffung der Todesstrafe und der Abschaffung der Folter keinen Zweifel gelassen. Zudem wurden Rechte der Teilautonomie für die nationalen Minderheiten gewährt. Es folgte eine breit angelegte Kampagne gegen die Korruption und der Laizismus wurde bis heute nicht angetastet. Die momentan so beklagte Entmachtung des Militärs, welches in der jüngeren Geschichte der Türkei dreimal durch einen Putsch die Demokratie außer Kraft gesetzt hat, kann man auch anders interpretieren.
Die Türkei unter der Regentschaft der AKP hat aus der Finanzkrise im Jahr 1998 in der Folge Schlüsse gezogen, die sich als richtig erwiesen haben. Das Land hat den maroden Banken eine geordnete Insolvenz gegönnt, die Anzahl der nationalen Kreditinstitute drastisch reduziert und ist der Basler Vereinbarung beigetreten, in der eine auskömmliche Eigenkapitalausstattung und das Risikomanagement von Banken geregelt ist. Die Konsequenz war, dass das Weltfinanzdesaster von 2008 nahezu spurlos an der Türkei vorbeigegangen ist und wir es heute mit einer solventen Volkswirtschaft und soliden Staatsfinanzen zu tun haben. Das wohl größte Verdienst der AKP, der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, ist in dem Gelingen zu suchen, ein relativ rückständiges und über Jahrzehnte schlecht geführtes Land mit ordnungspolitischen Maßnahmen und Investitionen in Infrastruktur und Bildung in die Moderne befördert zu haben, ohne die Bevölkerung massiv zu verängstigen und in die Arme fundamentalistischer Lösungsversprechen getrieben zu haben.
Zur Beurteilung einer Politik sollte man den Status quo ante zu Rate ziehen. Nur im Vergleich mit der Vergangenheit lässt sich beurteilen, ob eine Politik zielführend war und wie sie sich auf das betreffende Land ausgewirkt hat. Vergliche man die Entwicklung der beiden Länder, von denen hier die Rede ist, dann sollten diejenigen, die momentan die Rolle des herablassenden Lehrers einnehmen, in tiefer Demut schweigen. Wer nahezu nichts mehr zustande bringt, sollte Defizite bei anderen nicht überzeichnen.
