Das politische Leben des Heiner Geißler bietet fürwahr viele Angriffsflächen. Und im Umgang mit Zitaten hat er, zumindest in anderen, früheren Phasen seines Wirkens, durchaus bewiesen, dass er das Zeug zum Demagogen hat. Es sei nur an seine wagemutigen und diskreditierenden Erklärungen erinnert, als er während der politischen Debatten um den NATO-Doppelbeschluss der Friedensbewegung vorwarf, ihr Defätismus hätte den Faschismus erst ermöglicht. Das war jenseits der polemischen Grenzen und veranlasste keinen geringeren als Willy Brandt dazu, ihn in die Nachfolge der politischen Propaganda seit Goebbels zu stellen.
Umso erstaunlicher ist die Entwicklung dieses Politikers, der sich im Laufe der Jahre immer mehr von der offiziellen Politik der CDU entfernte, aber stets ihr Mitglied blieb und dennoch in Foren wie ATTAC auftauchte und mitarbeitete. Und bei der Auseinandersetzung von Stuttgart 21 tauchte er gar auch in den Augen der Gegner als Lichtgestalt und geliebter Schlichter auf. Dass es bei einem antagonistischen Widerspruch kaum einen Kompromiss geben kann, war wohl von vornherein allen Beteiligten klar. Und so wartete man ab, bis die Katze aus dem Sack war. Nun, wo es soweit ist und deutlich wurde, dass die Befürworter von Stuttgart 21 und ihre Argumentation zunehmend begünstigt sind, wenden sich die Gegner vom Verfahren ab und suchen nach Begründungen.
Und siehe da, wie aus dem Nichts taucht eine Formulierung Geißlers auf, die er nach einem zehnstündigen, aufreibenden Verhandlungsmarathon gebraucht hat und historisch aus dem Munde eben jenes Joseph Goebbels stammt, in dessen Tradition Willy Brandt ihn vor einem Vierteljahrhundert gesehen hatte. In jener berühmten Sportpalast-Rede vor ausgesuchten Parteimitgliedern hatte Goebbels die euphorisierte Menge gefragt, ob sie den totalen Krieg wolle. Totaler und radikaler als je zuvor. Jubelnd hatten die Besucher des Berliner Sportpalastes diese Frage bejaht und die Szene wurde als Propagandamaterial während des Krieges von den Nationalsozialisten verwendet.
Bei Heiner Geißlers Formulierung handelt es sich also tatsächlich um ein Zitat, das seiner gesamten Generation geläufig ist, weil sie damit konfrontiert wurde. Der Gebrauch des Zitates kann allerdings schwerlich als suggestive Frage des Stuttgart 21-Schlichters gewertet werden, auf die er eine euphorische Befürwortung erwartete, sondern er benutzte die Formulierung nachweislich, um eine totale Konfrontation als schlechteste aller Lösungen zu zeichnen.
Der Versuch, den Schlichter nur wegen eines historischen Zitates zu diskreditieren, welches er alles andere als politisch verwerflich benutzt hatte, hat eine gewisse Analogie zu totalitären Propagandamethoden. Indem Texte aus dem historischen Zusammenhang herausgerissen werden, werden sie semantisch entstellt und führen zu kalkulierten Fehlschlüssen, die dem Betroffenen schaden sollen. Das kann nur bei ahistorischen Wesen wie Amöben wirken. Das völlig abgeschmackte Vorgehen ist ein Plädoyer für historisches Wissen. Wer sich von solchen Tricks verführen lässt, dem ist nicht mehr zu helfen.
