Das arabische Kartenhaus

Längst ist aus dem arabischen Kartenhaus ein Modell für den Nahen Osten geworden. Was in Nordafrika mit Tunesien und Ägypten begann, in Algerien schwelt, im Jemen immer heißer wird, in Bahrain vorerst martialisch befriedet wurde und in Libyen zu einem grausamen Bürgerkrieg mit internationaler Verwicklung geführt hat, treibt nun auch in Syrien auf eine Explosion zu. Den Irak kennen wir seit der Amokpolitik George W. Bushs seit langem als Dauerkrisenherd und die Theokratie im Iran hält sich seit Jahren nur noch durch Mord und Terror. Das arabische Kartenhaus fällt zusammen und es hat sein Stammterrain längst verlassen.

Man sollte sich nun vor vorschnellen und auf Halbwissen basierenden Urteilen hüten. Schon sind die Welterklärer in unseren Seichtmedien dabei, das Debakel auf den Islam zurückzuführen. Obwohl Zusammenhänge bestehen, ist es jedoch so einfach nicht, weil es immerhin noch eine Anzahl von Ländern gibt, die trotz der überwiegenden Religionszugehörigkeit der Bevölkerung zum Islam stabiler dastehen als so manches Mitglied in der Europäischen Union. Nähme man den Erklärungsansatz ernst, dann wäre das destabilisierende Übel in der europäischen Region der Katholizismus, denn die vom zockenden Börsenpersonal zynisch genannten PIIGS-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien) sind bis auf das griechische Derivat allesamt römisch-katholisch.

Das Wesensmerkmal der erodierenden Staatsherrschaften in der arabischen Welt und im Nahen Osten ist aber das strukturelle Missverhältnis zwischen archaischer Machtausübung und einer zunehmend technisierten und differenzierten Infrastruktur und korrespondierenden kommunikativen Verkehrsformen. Der technische Bildungsgrad und die Möglichkeiten zu einer fortentwickelten Produktivität wurden geschaffen, die Herrschaft bestimmter Tyrannen und ihrer Familien entstammt einer anderen Welt. Es herrscht eine Asynchronität von Ökonomie und Politik. Die Folge ist ein Anpassungsprozess der Politik an die Ökonomie. Das war historisch immer so und ist insofern nichts Neues.

Der erneut zum Guten wie zum Schlechten bemühte Islam ist eine Religion. Zum Wesen von Religionen gehört es, dass sie versuchen, die Welt zu erklären und die unter ihrem Gang Leidenden auf einen anderen, jenseitigen Zustand vertrösten. Religionen wohnt in der Regel beides inne, ein Protest gegen das Reale, sonst gäbe sie es nämlich nicht, und etwas Affirmatives, indem sie die Menschen davon abhalten, hier und jetzt etwas gegen die Missstände zu tun. Der Islam in den Ländern, in denen jetzt die Karten umfallen, wird in den Folgejahren eine Entwicklung erfahren wie in den letzten Tausend Jahren nicht, denn er wird sich den neuen Verkehrsformen und Strukturen anpassen müssen, will er nicht ins Marginale abdriften.

Der Zerfall des arabischen Kartenhauses ist nicht unbedingt ein Präludium für eine Entwicklung der betroffenen Länder nach dem Vorbild westlicher Demokratien. Wer dieses annimmt, wird bitter enttäuscht werden. Aber es ist der Beginn einer islamischen Aufklärung, und das wird spannend und befreiend zugleich.