Eine Renaissance des Revisionismus

Unter dem Begriff Revisionismus können sich in der Regel nur jene Zeitgenossen etwas vorstellen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrer Biographie ein größeres Veränderungsvorhaben direkt miterlebt haben. Letztere bringen es nämlich mit sich, dass sie das Gegenwärtige jeweils richtig ins Wanken bringen und den Zustand derer, die sich in dem Kraftfeld der Veränderung befinden, gravierend beeinflussen. Viele müssen Macht und Einfluss abgeben und verlieren an Ressourcen, andere wiederum sind die Nutznießer. Ein derartiger Prozess bringt vieles aus dem gewohnten Lot und neben der anfänglichen Euphorie, die das Neue begleitet, macht sich mit Sicherheit auch irgendwann ein Gegengefühl breit, das Ängste schürt, vieles schwarz malt und zur Umkehr mahnt. Nicht selten sind das die Stimmen des Gestern, derer, deren Einfluss schwindet, aber eben nicht immer. Manchmal sind es einfach nur Unsicherheiten, die aufgrund gezielter Kommunikationsdebakel derer, die nichts mehr zu verlieren haben, entstanden sind. Manchmal sind es auch nur Anpassungsdepressionen. Für diejenigen, die einen solchen Prozess zu verantworten haben, sind es die Momente der Wahrheit.

Ein immer wieder zu beobachtendes Muster in dieser beschriebenen Veränderungskrise ist das folgende: Die Veränderung schreitet voran und hat bereits den eigentlich kritischen Punkt sogar überschritten. Es beginnt eine an Hysterie grenzende Kritik an den Protagonisten der Umgestaltung. Die Auftraggeber distanzieren sich von den Protagonisten, in dem sie zuwarten oder lediglich moderieren. Wie aus dem Nichts steigen eine neue Terminologie und ein neuer Begründungszusammenhang auf, die sich von der Philosophie des Wandels kaum unterscheiden, aber ihren Geist dennoch revidieren. Alle, die unter der Veränderung gelitten haben, atmen befreit auf, die Agenten des Wandels werden zum Teufel gejagt. Das ist die Stunde des Revisionismus.

Betrachten wir uns die wenigen Prozesse, die gegenwärtig in Deutschland grundlegende Veränderungen zum Ziel haben, dann ist auffällig, dass diese fast allesamt diesem Schema gefolgt sind oder folgen. Die mediale Begleitung dieser Machtkämpfe gleicht in vielen Fällen einem psychologischen Setting, das in den Hauptzügen totalitären Tribunalen entspricht. Ein über die Internetforen mobilisierter Mob, der zumeist den Diskussionen in ihrer Komplexität nicht folgen kann, reduziert diese in kleine, gierige Bisse. Eskortiert wird das Ganze von einer zunehmend entgleitenden Berichterstattung der großen Fernsehanstalten, wo die Akteure mit der Qualität und dem Ethos eines kritisch-unabhängigen Journalismus längst in die Minderheit geraten sind.

Von der Bundesanstalt für Arbeit bis zur Bundeswehr, von der Agenda 2010 bis zu Fußballvereinen ist das Muster der Abwendung von einem überfälligen Paradigmenwechsel zur Genese einer umgreifenden Renaissance des Revisionismus geworden. Das immer wieder laut vernehmliche kollektive Aufatmen gleicht dabei eher dem finalen Stoßseufzer der Kreatur, die vom Leben nichts mehr erwartet und an die Zukunft nicht mehr denken mag.