Puristische Ideale und praktische Kontaminationen

Die Geschichte der Religion und Philosophie lehrt uns, dass die menschliche Gesellschaft zu unterschiedlichen Phasen ihrer Entwicklung mit bestimmten Erklärungsmustern zur Existenz arbeitet. Das mag hartherzig und materialistisch klingen, aber es scheint tatsächlich so zu sein. Hatten die Sklavenhalter- und Feudalgesellschaften noch Weltbilder parat, die zum Ertragen höllischer Zustände im Diesseits rieten, um zur Belohnung im Jenseits auf ein paradiesisches Dasein zu treffen, so kam mit dem Kapitalismus und der protestantischen Leistungsethik zwar nichts Neues in Bezug auf die beiden Sphären auf, allerdings war es nicht mehr die Duldung des bösen Diesseits, die einen Eintritt in das Erlösende Jenseits ermöglichte, sondern die Möglichkeit, sich letzteres durch diesseitige Leistung zu verdienen.

Man muss jedoch sowohl der okzidentalen wie der orientalischen Kulturentwicklung zugute halten, dass die großen puristischen Lebensentwürfe, in denen ein reines, asketisches und wahres Dasein im Diesseits propagiert wird, nur noch im religiösen, wenn nicht sogar im Sektenbereich eine Chance auf Zustimmung finden. Wer bei Tageslicht und normalem Bewusstsein daraus ein politisches Programm machen würde, dem müsste man doch eine gewisse Fremdheit zu dieser unserer Welt attestieren.

Umso mehr geben die beobachtbaren Tendenzen zur Massenhysterie angesichts einer angenommenen chronischen Kontaminierung der Lebensumstände Anlass zur Sorge. Seit Jahrzehnten wird mit der Furcht der Menschen vor der Vergiftung ihrer Lebensverhältnisse regelrecht Politik gemacht. Ein Katastrophenszenario jagt das andere und es hat sich eine Vorstellung von einer Erreichung puristischer Ideale etabliert, die mit einer industrialisierten, hoch komplexen Welt von Massengesellschaften nicht mehr vereinbar ist. Der Vision der Entsagung von industriell erzeugten Gütern können innerhalb der Massengesellschaften nur diejenigen folgen, die über genügend Geldmittel verfügen, um sich in sozialen Nischen Lebensäquivalente zu beschaffen, und selbst diese Liquidität versiegte, sollte man sich von den hoch entwickelten Produktivkräften trennen.

Der Versuch, mit einer puristischen Ideologie den Schwierigkeiten und Anstrengungen einer komplexen Massengesellschaft zu begegnen, entspricht dem Doppelcharakter von Religionen. In dem es sie gibt und sie eine andere Welt propagieren, sind sie ein Akt des Protestes gegen das Bestehende. Indem sie eine nicht lebbare Welt favorisieren, tragen sie entweder zur Festschreibung des Bestehenden bei und sind somit reaktionär, oder sie versuchen, soweit politische Mehrheiten sie dazu ermuntern, die Gesellschaft in das puristische Ideal zu pressen, was ohne Gewalt und Unterdrückung nicht möglich ist.

Das Leben, so könnte man folgern, ist immer ein praktischer Kampf um das Bessere, Reine, aber es besteht aus alltäglichen Kontaminationen. Das politische Programm des Purismus führt zu Radikalisierung und Unterdrückung. Der Moralist ist und bleibt die Wurzel der Diktatur.