Das Volk mag sich nicht im Spiegel sehen!

Der Verdruss des Volkes über seine Regierung und die Klasse der Politiker ist seit langem evident. Das wird sich auch nach der Auszählung der Wahlergebnisse nicht ändern. Verständlich ist die Unzufriedenheit angesichts der Journale der letzten Regierungszeit nicht. Die Abgehobenheit von den tatsächlichen Bedürfnissen der Bevölkerung, die strategische Armseligkeit im Hinblick auf die Zukunft, die Verlorenheit im Detail, die Scheingefechte an Gegebenheiten, die mit dem Großen Ganzen wenig zu tun haben, die Schamlosigkeit, mit der oft gelogen wird, das Manövrieren und Taktieren, die Langeweile und das Mittelmaß, all das sind Dinge, die nicht dazu angetan sind, sich hoffnungsvoll neuen Herausforderungen zu stellen und das Schicksal des Landes zu gestalten.

In der gesellschaftlichen Diskussion um die Zustände entsteht der Eindruck, als hätten wir auf der einen Seite das redliche, ehrenwerte und stets betrogene Volk und auf der anderen Seite eine degenerierte und dekadente Politikerklasse, die nur nach dem eigenen Nutzen wirtschaftet und sich einen feuchten Kehricht um die Belange des Volkes schert. Da es sich bei der Politik um einen dynamischen Prozess handelt, der zumindest in den bürgerlichen konstitutionellen Demokratien lebt von der Wechselwirkung des Diskurses und in bestimmten Sequenzen evaluiert wird durch freie, gleiche und geheime Wahlen, scheint sich eine Wahrnehmung eingeschlichen zu haben, die sich vor allem nährt aus der Einschätzung, man gäbe die Verantwortung für die Geschicke des Landes exklusiv ab an Leute, denen man sowieso nicht traut. Es dokumentiert nicht die Reife, die seit der Großen Französischen Revolution der Rolle des Citoyens, des selbstbewussten und selbstreflexiven Bürgers, zugedacht ist. Von ihm nämlich soll die Gewalt ausgehen, die das Geschick des Landes gestaltet. Und nur wenn das Staatsbürgertum die Mittel der Analyse beherrscht und couragiert gewillt ist, konsequent in den Prozess der Politik einzugreifen, hat das Gemeinwesen eine Chance, dass der Wille des Souveräns umgesetzt wird.

Weder emotional noch intellektuell scheinen sich in unserem Land die Kräfte durchsetzen zu können, die das Wesen der Demokratie in dem beschriebenen Sinne verstehen. Im Gegensatz dazu sind große Teile der Bevölkerung darin geübt, an der Durchsetzung ihrer Partikularinteressen zu arbeiten, an der Doppelbödigkeit ihrer egoistisch getriebenen Politik zu feilen und diese mit Mechanismen durchzusetzen, die im öffentlichen Diskurs alle so anwidern. Missgunst, Neid, Ekel und Schuldkomplexe sind die Folge einer klein gemusterten Strategie, sich aus der Verantwortung für das Ganze zu stehlen. Die moralische Entrüstung ist das einzige Schaumbad der Euphorie, das da noch bleibt.

Die Komplexität der Welt, in der wir leben, lässt es nicht zu, mit einfachen Formeln das eigene Muster der Verweigerung zu propagieren. Jeder Mensch hat in einem Gemeinwesen die Möglichkeit, aufzustehen, wenn es nötig ist, einzugreifen, wenn es sinnvoll ist und für Ideen zu werben, wenn sie vernünftig sind. Wer dieses nicht einsieht, dem entgeht, dass er beim Anblick der Politik, die ihn so verdrießt, vor dem eigenen Spiegel steht.